Eineiig oder zweieiig? Über das vermeintliche Zwillingsverhältnis von Antisemitismus und Antiamerikanismus am Beispiel der deutschen Friedensbewegung1. Nicht nur in der antideutschen Debatte wird oft eine strukturelle Gleichheit von Antisemitis-mus und Antiamerikanismus behauptet. Dieses Behauptung dient bisweilen dazu, Antiameri-kanerInnen pauschal als AntisemitInnen zu denunzieren, um sich weitere Kritik an ihnen zu sparen ? und um sie so richtig hart zu treffen. Oft trifft es sie aber überhaupt nicht. Nicht nur, dass sie natürlich wie alle AntiamerikanerInnen nicht alle Amis hassen und vor allem als wichtigste Kronzeugen waschechte Amis vorweisen können. Neben diesen Standardausreden, die völlig verkennen, was mit dem Vorwurf des Antiamerikanismus gemeint ist, ist es wohl in der Tat so, dass antiamerikanische Äußerungen und Handlungen nicht antisemitisch intendiert sein müssen. D.h. für die politische Debatte wäre es hilfreicher, den Antiamerikanismus z.B. der deutschen Friedensbewegung zu analysieren und zu kritisieren, als ihn mit dem simplen Verweis auf deren vermeintlichen Antisemitismus abzutun. Und zwar nicht, um die aufklä-rungsresistente Bewegung zu bekehren, sondern um diejenigen zu überzeugen, die noch Hoffnungen in eben jene Bewegung setzen ? was ja das erklärte Ziel aller antideutschen In-terventionen ist.
Vorab ist noch zu betonen: Es ist unbestritten, dass die Mehrheit der Deutschen antisemitisch ist. Treffen sich also zwei Deutsche, ist in der Regel davon auszugehen, dass es sich um eine antisemitische Versammlung handelt. Analoges ließe sich allerdings auch über den Sexismus oder Rassismus behaupten. Die Friedensbewegung kann ohne Einschränkung als antisemiti-sche Bewegung bezeichnet werden ? die Frage ist nur: ist sie dies überdurchschnittlich und war dies handlungsanleitend? Diese Frage kann hier leider nicht beantwortet werden, da mir das Analyse-Instrumentarium dafür fehlt, nämlich Untersuchungen über deren AkteurInnen, Publikationen und andere Manifestationen.
Somit trifft der Antisemitismusvorwurf gegen Deutsche meist ins Schwarze, nur ist damit eine Bewegung wie die Friedensbewegung nicht treffend analysiert. Und ihre Äußerungen und Motivationen müssen nicht notwendigerweise antisemitisch sein, nur weil sie antiamerika-nisch oder sonstwie friedensbewegt sind. Niemand würde auf die Idee kommen, die Love-Parade wegen Antisemitismus zu verdammen oder gegen einen Naziaufmarsch aufgrund des Sexismus der Skinheads vorzugehen ? berechtigt wäre beides, nur nicht besonders sinnvoll.
Eine zweite Frage ist, ob nicht jede Bewegung eine Gefahr in sich birgt, weil zwar die Ein-zelmitglieder nur durchschnittlich ressentimentgeladen sind, jedoch in ihrer Ballung eine "kri-tische Masse" zusammenkommt, wo die/der deutsche SpießbürgerIn eben nicht nur so vor sich hin grübelt über die bösen Mächte dieser Welt, sondern sich die Bewegten gegenseitig befruchten und einem Ressentiment, was so latent vor sich hinwuchern mag, zum öffentlichen Durchbruch verhelfen. Dies gilt natürlich besonders für Bewegungen, die für sich in An-spruch nehmen, politisch zu sein und die sich deswegen auch politisch artikulieren ? darin besteht ja, um beim obigen Beispiel zu bleiben, die Ungefährlichkeit der Love-Parade für Au-ßenstehende, die ja bis auf die Feststellung, eine politische Demonstration zu sein, keine wei-teren politischen Aussagen getroffen hat.
Diese Argumentationsweise ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Doch auch hier gilt zu prüfen, ob die antiamerikanische Friedensbewegung, die dem Antiamerikanismus einen e-normen diskursiven Schub verpasst hat, auch für die Zunahme des Antisemitismus verant-wortlich gemacht werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es u.a. mit der Entschädi-gungsdebatte, dem Walser-Grass-Möllemann-Komplex, der neuen deutschen Weltgeltung und dem damit einhergehenden Bedeutungsverlust des Holocaust als tabuisierendes Moment so-wie der Universialisierung der historischen Schuld, dem Israel-Palästina-Konflikt und seiner medialen Aufbereitung viele weitere Faktoren gab, die es den Deutschen wieder erlauben, ihren Antisemitismus selbstbewusst zur Schau zu tragen ? auch ganz ohne Friedensbewegung.
Die wichtigste Begründung für die strukturelle Gleichheit von Antiamerikanismus und Anti-semitismus leitet sich aus einer spezifischen Analyse des Antisemitismus und Antiamerika-nismus ab. Nach dieser sind beide Ideologien Ausdruck einer antimodernen Reaktion, die die vermeintlich negativen Seiten des Kapitalismus (Geldgier, Kulturlosigkeit, Kosmopolitismus etc.) von den angeblich positiven (ehrliche Arbeit, Standesdenken, Heimatverbundenheit) abspaltet und auf das Andere (die Juden, die USA) projiziert, um es dann bekämpfen zu kön-nen. Diese Feinderklärung funktioniert so gut, weil man sich durch die Abspaltung nicht selbst bekämpfen muss und weil das abstrakte, unverstandene Kapitalverhältnis personifiziert oder zumindest terrorialisiert wurde (Juden, Bonzen, USA) ? und damit konkrete Schuldige benannt werden können. Beiden Ideologien ist inhärent, dass die jeweils anderen heimlich zur Weltherrschaft streben, weshalb der Kampf einer um Leben und Tod ist.
Diese Herleitung ist an sich nicht falsch, allerdings abstrahiert sie von den Unterschieden der beiden Ideologien. Die Unterschiede liegen in der historischen Entwicklung, den konkreten (auch aktuellen) Ausformungen, den TrägerInnen der Ressentiments und den Zielen der Feinderklärung. Dazu kommt noch, dass der Antisemitismus an sich, aber auch der Antiame-rikanismus kein einheitliches Weltbild ist, der nach bestimmten Kriterien zu diagnostizieren wäre. Gerade der Antiamerikanismus zeichnet sich durch eine Vielfalt von unterschiedlichen, sich oft auch widersprechenden Strömungen aus, dass sich eine Gleichsetzung mit dem Anti-semitismus schon deswegen verbietet, weil es den Antiamerikanismus gar nicht gibt.
Hinzu kommt, dass es auch zu anderen Ideologien eine strukturelle Ähnlichkeit gibt. Auch im Sexismus und Rassismus spaltet das (männliche, weiße) bürgerliche Individuum Verdrängtes ab und projiziert es auf die Frauen oder die "unzivilisierten Wilden". Der Unterschied liegt nun allerdings darin, was Inhalt der Projektion ist: Vormoderne Relikte, die man an sich selbst nicht mehr zulassen darf (kindliche Naturverfallenheit bei den "Wilden" und Frauen), oder moderne Zukunftsvisionen, die einem (noch) zu weit gehen in ihrer Radikalität (Reduzierung aller Verhältnisse auf das Warenverhältnis im Antisemtismus und Antiamerikanismus). Wer jedoch die Gleichheit von Antiamerikanismus und Antisemitismus postuliert, sollte zumindest auf die Ähnlichkeit zu anderen Ideologien eingehen und Unterschiede benennen können, an-statt ? wie es in der antideutschen Debatte häufig der Fall ist ? Rassismus und Sexismus als obsolet oder gar als reine Kampfbegriffe der Gegenaufklärung zu bezeichnen. Eine solche Betrachtungsweise würde auch ergeben, dass sich Elemente des Rassismus im Antisemitis-mus finden lassen und andersherum. Dies zu konstatieren nivelliert nicht die Unterschiede, sondern schärft die Analyse.
Zwei weitere gängigen Argumentationsmuster seien noch ausgeräumt. Das eine kommt mit der soziologischen Empirie daher: Die 70% deutschen AntiamerikanerInnen sind fast de-ckungsgleich mit den 70% AntisemitInnen. Dies trifft einerseits auch auf die 70% der deut-schen RassistInnen zu, andererseits belegt dies höchstens eine weitläufige Verwandtschaft. Aus der Vorliebe von RechtshänderInnen für IKEA-Möbel würde auch niemand tiefgreifende Schlüsse ziehen wollen ? oder sich blamieren. Eine andere Variante der Empirie stellt die eingreifende Untersuchung in Form der Präsentation von Israel-Fahnen am Rande von Frie-densdemonstrationen dar. Der damit hervorgekitzelte geballte Hass soll Beweis genug sein. Fragt sich allerdings, ob ähnliche Interventionen schon bei einem Fußballspiel, in einer Dorf-kneipe, auf dem Kölner Karneval, der Berliner IAA oder dem Münchner Oktoberfest auspro-biert wurden. Es sei hiermit versichert, dass sich die Reaktionen kaum unterscheiden dürften.
Doch selbst wenn wir von der strukturellen Ähnlichkeit ? und nicht Gleichheit, wie ich mei-nen würde ? von Antiamerikanismus und Antisemitismus ausgehen, heißt das noch nicht, das automatisch jede antiamerikanische Äußerung gleichzeitig antisemitisch intendiert sein muss bzw. eine entsprechende Wirkung hat. Ist also zu beantworten, ob die Friedensbewegung in ihrer Gesamtheit eine antisemitische Bewegung gewesen sei, weil sie durch und durch anti-amerikanisch war, ist einerseits mit ja zu antworten ? sie war so antisemitisch wie ihre Mit-glieder. Andererseits mit Jein. Sie ging nicht aus explizit antisemitischen Gründen auf die Straße und verhalf auch nicht vordergründig antisemitischen Vorstellungen zum Durchbruch. Dass sie es stellenweise doch tat, hat zwei Ursachen: Der erste ist geographischer Natur. Die USA führten Krieg in einer Region, in der auch Israel sicherheitspolitische Interessen hat. Das ist natürlich für alle AntisemitInnen ein gefundenes Fressen. Die Kriege der USA im latein-amerikanischen Hinterhof dürften hingegen schwerer antisemitisch, dafür einfacher antiame-rikanisch aufladbar sein. Die zweite Ursache hängt nun mit der konstatierten Ähnlichkeit zu-sammen. Eine antiamerikanische Bewegung verfügt schon automatisch einen antisemitischen Konsens, über den sie sich nicht erst verständigen braucht ? sondern der fröhlich kultiviert werden kann. Ein rassistischer Konsens ließe sich in der Friedensbewegung zwar herstellen, allerdings liegt das thematisch nicht auf der Hand und ergibt sich nicht von selbst. Wer jedoch vom schießwütigen Cowboy Bush und den geldgierigen Amis labert, landet früher oder später auch bei der "jüdischen Lobby" in der USA, dem "amerikanischen Vorposten" Israel und den ebenfalls geldgeilen Juden. Sollten deutsche Interessen mal gegen China verteidigt werden müssen, ist davon auszugehen, dass dann im deutschen Mainstream wieder der Rassismus auf der Hand liegt, während die Enttarnung der "jüdischen Lobby" in Shanghai und der geheimen Kooperation zwischen Peking und Tel Aviv den Nazis vorbehalten bleibt.
Was sind nun die Unterschiede? Historisch leitet sich der Antisemitismus aus einem Religi-onskonflikt ab, der ab dem Mittelalter langsam verweltlicht wurde, jedoch erst im 19. Jahr-hundert mit völkisch-rassistischen Diskursen verknüpft und zu einer Weltverschörungstheorie aufgewertet wurde. Der deutsche Antisemitismus mündete in der Shoa, nach 1945 entwickel-ten sich zwei versteckte Spielarten des tabuisierten Antisemitismus: der Antizionismus gegen Israel und der sekundäre Antisemitismus, der den Juden Auschwitz nicht verzeiht (Walser, Entschädigungsdebatte). Mit der Wiedervereinigung kommt es zu einer Reaktivierung des bis dahin nur latenten Antisemitismus, der jedoch keinen Bedeutungsverlust der beiden Ersatz-Antisemitismen bedeutet, sondern deren weiteren Aufstieg. Die Verbreitung des Antisemitis-mus in außereuropäischen Gebieten ist nicht nur eine Folge der Durchsetzung des ? dort je-weils noch krisenhafteren ? Kapitalismus', sondern geht auch auf das direkte Wirken europäi-scher, insbesondere deutscher Kolonialherren, Außenpolitiker und nationalsozialistischer Strömungen zurück. Festzuhalten bleibt also, dass der Antisemitismus auf eine lange Ge-schichte zurückblicken kann, in der sich Fragmente früherer Formen bis heute gehalten haben. Wichtig ist weiterhin, dass der Antisemitismus bis zur Staatsgründung Israels immer eine in-nere Feinderklärung war, da er die eigenen StaatsbürgerInnen und nicht etwa fremde Nationen oder EinwanderInnen zum Gegenprinzip erklärte. Nie vergessen werden darf die dem Anti-semitismus innewohnende Vernichtungstendenz, die in der Shoa ihren Höhepunkt gefunden hat, sich aber bis heute hält.
Der Antiamerikanismus ist hingegen neueren Datums. Er war ursprünglich eine Reaktion rückschrittlicher Schichten (Adel, Teile des Bürgertums) auf die revolutionären Entwicklun-gen in der ehemaligen britischen Kolonie. Zu dieser Zeit regte die Freizügigkeit der Lebens-einstellung und die Unerschlossenheit des Landes die Phantasie des europäischen ArbeiterIn-nen und BürgerInnen an ? und Millionen wanderten aus. Erst mit der Etablierung des Bürger-tums in Deutschland verlagerten sich die antimodernen Ressentiments, die sich gegen den Erzfeind Frankreich richteten, auf die USA und der Antiamerikanismus wurde zur gemein-schaftsstiftenden Ideologie. Schon Reaktion auf die unverstandene Abstraktheit des Kapital-verhältnisses, war der Antiamerikanismus noch keine Weltverschwörungstheorie. Vielmehr wurden die anarchischen Zustände bemängelt, die nationalstaatlich gezügelt werden müssten (d.h. eher eine Form des kulturalistischen Rassismus'). Rassistisch-völkisch aufgeladen war der Antiamerikanismus nur an seinen Rändern: Schließlich handelte es sich um Menschen vom "eigenen Fleisch und Blute". Ein nicht so häufig bemühter Topos des Antiamerikanismus ist der von der "Bastardisierung" im Schmelztiegel der Kulturen, insbesondere durch latein-amerikanische und afrikanischen Einflüsse. Später wurde die Geschäftstüchtigkeit und die damit einhergehende Kulturlosigkeit der Amis angeprangert. Die USA hatten das Alte Europa überholt und die EuropäerInnen schauten neidisch und skeptisch auf das, was auch auf sie zukommen würde. In ihren Diskursen über die USA verhandelten sie ihre eigene Zukunft ? und wehrten sie ab. Wenn damals davon die Rede war, dass die Amis nur an Geld denken, so hatte das mit dem gleichlautenden Vorwurf an die Juden nicht viel zu tun: Die Amis waren die erfolgreicheren Konkurrenten, die produktiver wirtschafteten, hingegen die Juden die schmarotzenden und unproduktiven Geldaussauger der Finanzsphäre. Erst in jüngerer Zeit findet sich der Vorwurf des "Auf-Kosten-anderer-leben" auch im Antiamerikanismus.
In Deutschland entwickelte sich eine spezifische Form des Antiamerikanismus, analog zum ? aber nicht gleichzusetzen mit dem ? sekundären Antisemitismus. Die Deutschen konnten es den Amis nie verzeihen, dass sie sie vom Nationalsozialismus befreit hatten. Einerseits wurde die Befreiung nicht als solche anerkannt, anderseits war die Schmach der Unterlegenheit zu groß. Dementsprechend musste das eigene Versagen nivelliert und gegen vermeintliche Feh-ler der Amis aufgerechnet werden: Auschwitz gegen Dresden oder Vietnam.
Die USA waren trotzdem immer auch Vorbild, der große Bruder, gegen den man rebelliert, gegen den man aber nicht wirklich ankommt. Israel wurde diese Ehre nie zuteil ? mal abgese-hen von der Bewunderung der Springer-Presse für die Schlagkraft der israelische Armee, in der die Kriegsveteranen die Wehrmacht wiederzuerkennen glaubten. Der Antiamerikanismus ist eine Ideologie, die nicht auf Vernichtung zielt. Die AntiamerikanerInnen wollen genauso mächtig sein, dabei jedoch ihr gutes Gesicht nicht verlieren. Deswegen hetzen sie gegen die USA und geben vor, die Weltherrschaft besser bewerkstelligen zu können. Der Antisemitis-mus hingegen projizierte nie ein positives, zu erreichendes Bild vom Gegner. Die Hetze gegen die Spekulanten meinte in der Regel nicht, dass man selber Bankangestellter werden wollte, sondern dass man zwar Geld von der Bank haben wollte, um weiter sein Handwerk betreiben zu können, aber keine Zinsen zahlen wollte.
Der Antisemitismus war und ist allerdings nicht nur in seinen Taten bedrohlicher als der Anti-amerikanismus, sondern auch wahnhafter. Der Antisemitismus des Mainstreams äußert sich deswegen oft nur verdruckst ? der offene Antisemitismus ist heute in Westeuropa eine Rand-erscheinung. Antiamerikanisch hingegen kann man hingegen ganz offen und reinsten Gewis-sens sein. Antisemitismus verträgt sich nicht mit der herrschenden bürgerlichen Logik, auch wenn er ihr entspringt; Antiamerikanismus ist direkter Ausdruck dieser Logik. Der Antisemit beruft sich auf die "Protokolle der Weisen von Zion" oder erfindet Gräueltaten Israels. Der Antiamerikaner kann dagegen ? ganz seriös ? aus Michael Moore zitieren und auf die reale Macht der USA verweisen. Während der Antisemit gezwungen ist, zu fälschen und zu lügen, damit sein Weltbild Bestand hat (ohne dass er sich dessen bewusst ist), reicht für den Anti-amerikaner nur die etwas eigenwillige Interpretation der Wirklichkeit.
Neben der strukturellen Ähnlichkeit von Antisemitismus und Antiamerikanismus sind auch historische und politische Gründe dafür ausschlaggebend, dass es zu einer tendenziellen Auf-hebung der soeben skizzierten Unterschiede kommt. Mit der Shoah und der Staatsgründung Israels wurde aus der innenpolitischen "Judenfrage" der Hass auf Israel, der sich jedoch nur verklausuliert zu artikulieren vermag. Die antisemitischen Zuschreibungen bezüglich Israel ähneln den antiamerikanischen hinsichtlich der USA. Nicht nur in der paranoiden Wahrneh-mung der WeltverschwörungstheoretikerInnen gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen den USA und Israel: beides keine homogene, gewachsene und dem "Boden verhaftete Gemeinwe-sen", sondern "kolonialistische Projekte", die auf Vertreibung der Indianer und Palästinenser basieren. D.h., richtig gewendet: Multikulturelle, moderne Staaten, die von EmigrantInnen errichtet wurden, weil sie in ihren Ländern nicht mehr leben konnten oder wollten ? Staaten also, die ursprünglich mit revolutionären bzw. sozialistischen Visionen gegründet wurden und heute deswegen alle Vorzüge des Kapitalismus in sich vereinen. Neben Israel ist die USA der einzig bekannte Staat der Welt, in dem Jüdinnen und Juden relativ sicher vor Antisemitismus sind ? und die USA ist die einzige Weltmacht, die Israel einen gewissen Schutz garantiert. Es scheint also, als ob nicht nur Antiamerikanismus und Antisemitismus sich angenähert haben, sondern dass auch der Antiamerikanismus viele Leerstellen, die dem Antisemitismus durch die Shoa entstanden sind, besetzen konnte. Damit wird der Antiamerikanismus zur universel-len Verschwörungstheorie und die USA zum absolut Bösen. Sie wären dies auch ohne Israel und die halluzinierte ZOG. Der Antisemitismus in Westeuropa mutiert immer mehr zu einer Mischung aus Reminiszenz an alte Zeiten, einer brauchbaren Folie zur Interpretation des Nahostkonflikts, einer Abwehr- und Bewältigungsstrategie für die eigene Vergangenheit und einem Reimport aus dem arabischen Raum ? so meine abschließende These. Der Antisemi-tismus wird für die Betroffenen zwar immer gefährlicher bleiben als der Antiamerikanismus und auch für Israel steht mehr auf dem Spiel als für die USA; der Antiamerikanismus ist da-gegen wahrscheinlich das dominantere und präsentere Modell für allgemeine Welt(v)erklärungen ? und das nicht nur in der Friedensbewegung. Gerade im Zuge der Globa-lisierung projizieren die einzelnen Menschen ihre Ängste und ihren Hass nicht mehr auf die ?Juden? und auch nicht auf Israel, welches zwar als die Bedrohung für den Weltfrieden be-zeichnet wird, aber als wenig bedrohliche, greifbare, für sich selbst erfahrbare. Die Deutschen organisieren sich hingegen lieber in Vereinen zur Rettung der deutschen Sprache und Musik, in der ?linken? wie rechten Szene, in der Antiglobalisierungsbewegung oder auf Friedensde-monstrationen ? und dort geht es an erster Stelle gegen Amerikanisierung, McDonalds, Cross Border Leasing, Coca Cola, Bush und vermeintliches amerikanisches Weltmachtstreben.
Zum Ende soll noch einmal klar betont werden: Die Differenzierung zwischen Antiamerika-nismus und Antisemitismus dient nicht der Inschutznahme der Friedensbewegung, sondern der generellen Kritik aller deutschen Bewegungen und Zustände.
Mark Schneider
Der Autor ist Mitglied im bgr (www.nadir.org/bgr)
Literatur
Thomas Uwer, Thomas von der Osten-Sacken, Andrea Woeldike: Amerika. ça ira (mit einem Beitrag von Gerhard Scheit, der die Gemeinsamkeiten von Antiamerikanismus und Antisemi-tismus betont)
Michael Hahn: Nichts gegen Amerika. Konkret Literatur Verlag (mit einem Beitrag von Frank Illing, der Unterschiede herausarbeitet)
Gruppe Morgenthau: Deutsche Projektionen (mit einem informativen historischen Abriss der Gruppe Les Croquembouches über den Antiamerikanismus)
1 Eine Detailkritik an der Leipziger Friedensbewegung findet sich in: Mark Schneider: Frieden, Frieden über alles..., in: Incipito 07/2003
2 siehe: Bahamas (http://www.redaktion-bahamas.org), CEE IEH Newsflyer (http://www.conne-island.de)
3 Der Gegeneinwand, dass soziale Bewegungen auch genau das Gegenteil bewirken können, nämlich Ressenti-ments einzudämmen, indem sich die AkteurInnen gegenseitig positiv beeinflussen, ist zwar theoretisch vorstell-bar und in jedem Fall begrüßenswert, dürfte im deutschen Alltag allerdings selten nachzuweisen sein. Die Be-mühungen diverser linke Gruppen innerhalb der Friedensbewegung, die genau eine solche Strategie für sich in Anspruch nahmen, blamierten sich an der Realität. Siehe auch: Bündnis gegen Rechts: Der große Perspektiven-Schwindel, in: Phase 2 10/2003
4 Siehe: Stephan Truninger, Daniel Völk: Antiamerikanismus ? Säkularisierter Antisemitismus, in: Risse 2/2002; ausführlicher in den Büchern, die in den Literaturhinweisen am Ende des Textes empfohlen werden
5 Siehe: Martin D.: Die halbe Wahrheit ist die ganze Unwahrheit, in CEE IEH #84/2002
6 Siehe: Antirassistische Gruppe Leipzig: Theorie und Praxis, in: CEE IEH #87/2002
== Mark Schneider (BgR; Phase 2) == [Nummer:11/2004 ] |